An der Rheingauschule klettern Abiturienten und Kinder gemeinsam im Sportunterricht
,,Einmal so richtig hoch klettern, an einem Seil gesichert und dann von oben runterschauen", diesen Wunsch teilt der neunjährige Junge mit vielen anderen Kindern, egal ob mit oder ohne Behinderung. Doch ohne eine Einzelbetreuung bleibt das Klettern für das behinderte Kind ein Traum, denn seine Fähigkeiten sind aufgrund eines Handicaps begrenzt.
Dass dieser Traum nun doch wahr geworden ist, ist einem beispielhaften Inklusionsprojekt zu verdanken: Unter dem Motto ,,Grenzen überwinden" findet an der Rheingauschule zur Zeit ein gemeinsames Projekt mit der Turngemeinde Rüdesheim 1847 e.V. statt. 14 Kinder mit Handicap im Alter von 7 bis 12 Jahren vom St. Vincenzstift in Aulhausen, die zur integrativen Sportabteilung der Turngemeinde Rüdesheim gehören, besuchen seit den Herbstferien den Sportkurs der Jahrgangsstufe 13 der Rheingauschule Geisenheim.
Eimal in der Woche klettern sie an der acht Meter hohen Kletterwand der Rheingauschule für zwei Stunden im Sportunterricht mit den zukünftigen Abiturienten. Je ein Abiturient und ein Kind bilden em Team. ,,Dabei entstehen persönliche Bindungen und das Vertrauen wächst von Stunde zu Stunde. Es ist unglaublich, mit welchem Emfühlungsvermögen die Abiturienten auf die Kinder eingehen", lobt Sportlehrer Daniel Bagus seine Schüler. Andel Glock, Übungsleiterin bei der Turngemeinde Rüdesheim, ergänzt das Kletterangebot und arbeitet mit den Teams, die gerade kein freies Seil an der Kletterwand haben, auf dem großen Trampolin. Unter ihrer Leitung versuchen sich die Kinder und jungen Erwachsenen auch gemeinsam in Akrobatik oder meistern als Gruppe Aufgaben Aus der Erlebnispädagogik.
,,Während manche dem Integrationsprojekt anfangs noch skeptisch gegenüberstanden und vielleicht auch Angst davor hatten, die neuen Aufgaben bewältigen zu können, wuchs das Interesse daran, das Projekt durch Eigeninitative zu fördern, schon nach de ersten Schulstunden. "Wir bekamen durch eine Art ,,Memory-Spiel" eines der Kinder zugeteilt um das wir un für die restlichen Tage des Projekt kümmern sollen. Wir sind die ,,Großen", sie die ,,Kinder", so die Schülerin Kathrin Schneider. Anfangs sei es etwas ungewohnt gewesen, in den Unterricht zu gehen und selbst Betreuer zu sein aber keinesfalls zu schwierig: ,,Man macht etwas mit Menschen zusammen und da man diese manchmal eben schwer einschätzen kann, steht man jede Woche vor neuen überraschenden Aufgaben".
,,Das Kind, das ich betreue, hat Artikulationsschwierigkeiten, aber dann muss man eben kreativ sein und sich Zeichen ausdenken, mit denen man sich beim Klettern verständigen kann.", meinte ein anderer Abiturient voller Begeisterung nach der ersten Stunde. Es sei schon vorgekommen, dass eines der Kinder auf halbem Weg nach oben an der Kletterwand plötzlich Angst bekam, sich festkrallte und weder vor noch zurück wollte, erzählt Kathrin Schneider: ,,Ich wusste erst nicht, was ich machen sollte, denn ich konnte ja auch nicht hochklettern, da ich unten bleiben musst, um ihn zu sichern." Doch wenn man zusammenarbeite, sei es auch bei solchen kleinen Komplikationen möglich, ans Ziel zu kommen ,,Als er wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, ich ihn in den Arm nahm und ihm die Tränen aus den Augen wischte, war alles wieder in Ordnung,"
Manche anderen Kinder seien dagegen total flink, würden bis zu acht Mal hintereinander die Wand hochklettern oder anfangen, schon selbst zu sichern, mit oder ohne Hilfe. ,,Mit jeder Woche wächst das Vertrauen. Anfangs wusste man gar nichts voneinander, man kannte weder die Familie, noch die Hobbies und wusste auch nichts über die Behinderung. Trotzdem entwickelte sich schnell ein Gefühl dafür, wie man mit den Kindern umzugehen hat, der Spaß daran, wieder in die Kinderwelt einzutauchen, wächst", so Kathrin."Irgendwie ist die Neugier der Kleinen ansteckend", sagt sie. Trotz der zwei ganz unterschiedlichen Altersklassen, die aufeinander treffen, sei das Projekt irgendwie an die Reife und Entwicklung beider Gruppen angepasst: ,,Ich glaube nicht, dass ich schon in der Unterstufe dazu fähig gewesen wäre". Obwohl zwei Lehrkräfte da sind, an die sich die ,,Betreuer" jederzeit wenden können, haben die Abiturienten das Gefühl, selbstständig zu sein. ,,Ich finde es klasse, dass uns so etwas zugetraut wird, auch wenn wir darin keineswegs geschult sind, und solche Erfahrungen steigern auch das Selbstbewusstsein", hält Kathrin Schneider fest. Und ihr sei auch bewusst geworden, dass eine Behinderung kein statischer Begrift sei, wie er von vielen oft aufgefasst werde.
,,Die Beeinträchtigung ist in Bewegung. Sie besteht zum Teil aus Barrieren, die überwunden werden können. Genau wie die Barrieren, die sich versuchen, in unseren Köpfen festzusetzen, die es mit der Zeit immer schwerer machen, ein Vertrauen aufzubauen. Natürlich können wir die Kinder nicht heilen, aber ich denke, wir geben ihnen und auch uns die Möglichkeit, an neuen Herausforderungen zu wachsen, neue Chancen und Potentiale zu entdecken, die wir nutzen sollten", so Kathrin.
Die Verantwortung für ein Kind mit Handicap zu übernehmen sei in den letzten neun Wochen eine ganz neue, wichtige Erfahrung gewesen und es sei auch richtig anstrengend, aber Spaß habe dieses Projekt allen Beteiligten gemacht. Das zeigen auch die strahlenden Augen der kleinen Partner, die am liebsten für immer oben an der Kletterwand bleiben würden und manchmal nur mit Mühe überzeugt werden können, den letzten Griff ganz oben auch wieder loszulassen.
,,Es wäre toll, wenn solche oder ähnliche Projekte auch in Zukunft immer mehr ,,Schule" machen würden", hoffen die Initiatoren der Turngemeinde und des Gymnasiums, denn letztendlich profitieren alle von solchen Kooperationen.
Sabine Fladung, Oestrich-Winkeler Info-Blatt |