Autorin Maja Nielsen präsentiert in der Geisenheimer Rheingauschule ihren neuen Roman „Tatort Eden 1919“. Dabei versucht sie, die Zehntklässler für Politik zu begeistern.
„Unpolitisch sein heißt politisch sein, ohne es zu wissen. Heute am 100. Todestag von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht könnt ihr euch entscheiden, ob ihr politisch sein wollt“, fordert Autorin Maja Nielsen die Zehntklässler der Rheingauschule auf. Gleich am ersten Schultag des neuen Jahres haben sich die Schüler zur Lesung des erst kürzlich erschienenen Romans der Autorin in der Aula eingefunden.
„Tatort Eden 1919“ ist der zweite Roman von Nielsen. Bekannt ist die Schriftstellerin vor allem für ihre Abenteuergeschichten zu verschiedenen Sachthemen. „Doch dieses ist ein politisches Buch“, betont sie. Bevor Nielsen tatsächlich vorliest, nimmt sie die Jahrgangsstufe E mit zu einem Exkurs in das Jahr 2015. „Ein wichtiges Jahr in Deutschland und der Beginn der Flüchtlingswelle“, so Nielsen. An viele schlimme Bilder habe man sich damals gewöhnt. Das Bild eines Flüchtlingsjungen, der tot an den Strand gespült worden war, habe etwas verändert. „Das Bewusstsein wurde gestärkt und man konnte nicht mehr so tun, als würde es uns nichts angehen, was im Mittelmeer passiert“, führt Nielsen aus. In der folgenden ersten Phase der „Willkommenskultur“ in Deutschland nimmt „Tatort Eden 1919“ seinen Anfang.
Der junge Biko, ein Deutscher mit ghanaischen Wurzeln zieht aus der Provinz im Sauerland nach Berlin, um dort an einer Artistenschule zu lernen. Den Koffer in der Hand, mit dem sein Vater vor rund 25 Jahren nach Deutschland kam, findet er sich auf dem vollen und hektischen Bahnhof der Hauptstadt wieder. Prompt wird er dort von der jungen Lizzy fälschlich als „UMF“, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, identifiziert. Fasziniert von der jungen Frau, schafft er es nicht, das Missverständnis aufzuklären, sondern lässt sich von der ehrenamtlichen Helferin mitreißen. Eine kleine Liebesgeschichte entwickelt sich, und die rund 150 Schüler lauschen gespannt den Worten der Autorin. „Selten habe ich die Aula so ruhig erlebt“, sagt Lehrerin Anja Konschak. Man sei froh, in Zusammenarbeit mit Sabine Stemmler vom Netzwerk Leseförderung Rheingau-Taunus, den Schülern eine solche Lesung anbieten zu können.
Rechte und Linke des politischen Spektrums prallen in dem Roman aufeinander, der sich immer wieder zwischen Soli-Veranstaltungen und Demonstrationen besorgter Bürger bewegt. Doch an dieser Stelle hört der Roman nicht auf, sondern findet nur seinen Anfang. Denn Biko stößt im Fundus der Artistenschule auf einen Koffer mit alten Briefen eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Und durch die Erzählungen des Requisiteurs findet sich der junge Mann plötzlich in die Zeit der Novemberrevolution zurückversetzt.
Lesung wird im Unterricht nachbereitet Hier entspinnt sich der eigentliche Krimi um den Mord zweier wichtiger Figuren jener Zeit, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die am 15. Januar 1919 im Hotel Eden in Berlin umgebracht wurden. Doch was hat Bikos Situation mit Rosa Luxemburg zu tun? Damals wie heute habe man die Wahl, sich politisch zu engagieren und sich mit Politik auseinanderzusetzen, resümiert Nielsen.
Dass das Gehörte in den Jugendlichen nachklingt, zeigen ihre Fragen an die Autorin zu Recherche, Hintergründen und politischen Zusammenhängen. „Wir werden die Lesung im Unterricht entsprechend nachbereiten“, kündigt Lehrerin Konschak an.
Wiesbadener Kurier vom 16.1.2019
Hintergrundinformation: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg stehen in ganz besonderer Weise für historische Vielschichtigkeit/Komplexität: Als Pazifisten sprachen sich beide 1914 im Gegensatz zur SPD-Mehrheit gegen die Bewilligung der sogenannten Kriegskredite aus. Im Ersten Weltkrieg kritisierte Liebknecht als einziger deutscher Parlamentarier öffentlich den Völkermord an den Armeniern. In der Novemberrevolution 1918 setzten sich beide für eine radikale Fortführung der Revolution mit dem Ziel einer sozialistisch-kommunistischen "Diktatur des Proletariats" in Form einer Räterepublik ohne Gewaltenteilung ein. Um den demokratischen Sieg der gemäßigten Sozialdemokraten und Liberalen abzuwenden, versuchten sie im "Spartakusaufstand" die ersten allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen in Deutschland zu verhindern. Als Befürworter einer gewaltsamen Bekämpfung des Parlamentarismus sind Rosa Luxemburg, aber vor allem Karl Liebknecht, nach heutigen politikwissenschaftlichen Kriterien dem linksextremistischen Spektrum zuzuordnen. Der in der Sowjetunion praktizierte bolschewistische Terror wurde von Rosa Luxemburg aber abgelehnt Am 15. Januar 1919 fielen beide einem politischen Verbrechen zum Opfer. Im Zuge der Niederschlagung des Spartakusaufstands wurden sie von Freikorps-Soldaten (Rechtsextremisten nach heutigen Kriterien) festgenommen, verhört, mutmaßlich gefoltert und erschossen. Dieser Doppelmord wurde in der Weimarer Republik nie ordnungsgemäß verfolgt. Die Täter wurden entweder freigesprochen oder zu sehr geringen Gefängnisstrafen verurteilt, die sie - bis auf eine Ausnahme - nicht antreten mussten. (Kai Torsten Rohn)
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