„Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft“, stimmen Chor und Orchester in der Rheingauschule an, als der Höhepunkt eines Europa-Projekttags endet. Das Lied der „Toten Hosen“ bildet wohl ungeplant den Kontrast zu den Aussagen, die gerade der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir (Grüne) vor 140 Oberstufenschülern getroffen hat.
Seine Rede ist kurz, umso mehr Zeit bleibt für die Diskussion mit den Schülern in der Aula. Abwägen, nicht nur Schwarz und Weiß sehen, das fordert der Minister mehrfach. Die jetzige Generation müsse ein „gewisses Grundgefühl entwickeln, wie die Gesellschaft sein soll“, sagt Al-Wazir. Von Sonntagsreden am Montagmorgen hält der Realo offensichtlich nichts.
„Europa hat insgesamt keinen Mut und keine Zuversicht“, erklärt er zur aktuellen Lage. Er geht auf die Egoismen der einzelnen Staaten ein, die wollten „offene Grenzen behalten – aber ohne offene Grenzen“. Besonders in osteuropäischen Ländern erkennt er „Anti-Europäer“ an der Macht. Al-Wazir sorgt sich über Wahlergebnisse in Ungarn, Polen und zuletzt im Nachbarland Österreich.
„Wir sollten nicht mit dem Holzhammer agieren“, mahnt er zum Umgang mit diesen Ländern und erinnert an die historisch gewachsene Angst in Polen vor Fremdbestimmung. Die Gymnasiasten stellen rege Fragen, die alle Punkte der momentanen europapolitischen Debatte abdecken. Eine Einschätzung zum Brexit, dem möglichen Ausscheiden Großbritanniens aus der EU, interessiert sie etwa.
Al-Wazir hofft, dass es nicht zum Austritt kommt, und wenn doch, „gibt es dafür keinen Plan“ aufgrund der Einmaligkeit. Desintegration sei auch ökonomisch nachteilig, denn gerade die Deutschen seien die größten Profiteure des Euros und Hessens Wirtschaft exportiere zu 60 Prozent in Länder der Europäischen Union. Und dass die Roaming-Gebühren sinken, nützt vielen jungen Leuten.
Das Beispiel der Handy-Tarife wählt Al-Wazir, um den üblichen Klagen über Gurken-Krümmungsgrade und Glühbirnen-Verbote noch etwas anderes entgegenzusetzen als die „großartige Idee“ von Europa. Schon eingangs hatte Schulleiter Karl-Heinz Drollinger „keine Feiertagsdidaktik“ angekündigt, sondern betont, wie der europäische Gedanke durch Sprachunterricht und Austausch lebt.
Von Griechenland bis TTIP werden etliche weitere Themen gestreift. Bemüht zur Ausgewogenheit, bekennt sich Al-Wazir in Sachen Erdogan und Böhmermann zu einer „aus Ihrer Sicht etwas paradoxen Meinung“: Er begrüßt die baldige Abschaffung des Majestätsbeleidigung-Paragrafen und bewertet die umstrittene Satire als teils rassistisch und unklug: „Die Länge von Geschlechtsteilen ist kein politisches Argument.“
Wiesbadener Kurier vom 3.5.2016
Pressemitteilung des Hessischen Wirtschaftsministeriums
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