Zeitzeugengespräch mit Lilo Günzler Drucken
Geschrieben von: Hannnah Daubitz und Claire Beck   
Mittwoch, den 10. April 2013 um 16:14 Uhr

Dort wo wir hinfahren, ist der Himmel ganz nah.

 

zeitz1Zeitzeugengespräch mit Frau Lilo Günzler am 19.März 2013 – ein Bericht von Hannah Daubitz & Marie Claire Beck, Klasse 9c

 

 

„Die Synagoge brannte und sie traten die Thora, unser heiligstes Buch. Ich starrte in die Augen meiner Mutter, die mich inzwischen auf ihren Arm genommen hatte. Tränen schossen in ihre Augen und sie antwortete nicht auf meine Frage, was hier los sei, sie stand einfach nur da und starrte das Feuer an.“

 

Lilo Günzler, eine kleine, weißhaarige Frau beginnt das Zeitzeugengespräch mit einer Lesung aus ihrem Buch "Endlich Reden".

Keiner der Umstehenden reagierte, nicht einmal die Feuerwehr wurde gerufen. Es dauerte einen Moment, bis meine Mutter sich gefangen hatte, dann rannte sie los. Zurück nach Hause. An diesem Tag ging ich nicht in den Kindergarten.“

Frau Günzler blickt auf, mustert uns Schüler. Niemand sagt etwas. Sie ist sich der Wirkung ihrer Worte deutlich bewusst.

„Überall wurden die Geschäfte jüdischer Inhaber demoliert. Schaufenster wurden eingeschlagen, Möbel aus dem Fenster geworfen und immer wieder hörte man sie ‚Juden raus‘ rufen. Ich hatte das Wort Jude noch nie gehört. Was es bedeutete, wusste ich auch nicht, aber es machte mir Angst. Und auch meine Mutter schien Angst zu haben, denn sie hörte nicht mehr auf zu weinen. Den restlichen Tag durften wir nicht mehr aus dem Fenster sehen, geschweige denn aus dem Haus gehen.“


Mit dem 09.November 1938 erreichte die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden in Deutschland eine neue Stufe. Jüdische Kinder mussten Extraklassen besuchen und wurden somit von anderen Kindern isoliert. Lilos eineinhalb Jahre älterer Bruder, Helmut, war einer von ihnen. Juden duften nur noch in speziellen Geschäften einkaufen. In Frankfurt am Main gab lediglich einen Supermarkt in ihrem Stadtviertel, der für Juden besondere Öffnungszeiten sowie eine besondere Essensverteilung hatte. Keiner der 200 Juden die dort jeden Donnerstag von 18-20 Uhr einkaufen durften, traute sich Forderungen zu stellen oder Wünsche zu äußern.

,,Geben Sie uns das, was uns zu steht “, so formulierte Lilos Mutter ihre Bitte auf Essen und als Antwort wurde ihr für eine Woche eine Packung Mehl, 5 Eier, 3 Packungen Milch und 50g Teigwaren gegeben. Zu wenig um eine vierköpfige Familie für eine Woche zu ernähren. Ein Haushalt in unserer Zeit verbraucht diese Menge an Lebensmitteln schon in zwei Tagen. „Wir wären sicherlich verhungert, hätte es unsere Nachbarin die Bäckersfrau nicht gegeben. Heute sehe ich sie gerne als den Schutzengel meiner Jugend. Sie war es, die uns heimlich mit Essen versorgt hat und meine Eltern bereits früh gewarnt hatte, dass wir auswandern oder uns zumindest katholisch taufen lassen sollten.“

Und so kam es, dass Lilo 1933 und ihre Mutter 1934 katholisch getauft wurden. Doch das änderte nichts daran, dass sie immer noch ein Mischling 1. Grades war. Als es für Lilo Zeit wurde zur Schule zu gehen, sagte ihre Mutter zum ersten Mal, dass sie, wenn sie gefragt werden sollte, sagen solle, dass sie ein Mischling 1. Grades oder ein sogenannter Geltungsjude sei. Damals wusste Lilo nicht was ein Jude ist und sie wollte keiner sein. Sie wollte kein Außenseiter sein und so hoffte sie, dass niemand sie fragen würde.

Als der Krieg begann, wurden die Freiheit der Juden, sowie ihre Recht weiter eingeschränkt. Uniformierte Männer nahmen ihnen die Radios weg, Druck wurde auf „Arier“ ausgeübt, die mit Juden verheiratet waren, weil es einem „Arier“ nicht zu zumuten wäre, mit einem Juden verheiratet zu sein, geschweige denn mit ihnen unter einem Dach zu leben. Somit wurden sogenannte Judenhäuser und Judenghettos eingerichtet. Da es zu dieser Zeit Luftangriffe gab, waren öffentliche Luftschutzkeller Pflicht, jedoch waren diese für Juden verboten. Volljüdische Kinder aus sogenannten Mischehen wurden in Kinderheime gesteckt. Ihnen war es verboten weiterführende Schulen zu besuchen. Helmut war einer von ihnen. Lilos Mutter meldete sich freiwillig zum Kochen, Putzen und Waschen im Kinderheim, um Helmut sehen zu können. Sie glaubte, so auch seine Deportation verhindern zu können.

Als immer mehr Kinder auf Transport geschickt wurden und die Zahl von 300 auf 20 schrumpfte, war Familie Günzler bewusst, dass auch Helmut bald unter den Betroffenen sein würde. So kam es, das ihr Vater eines Tages einen SS-Mann bat: „Ich habe vier Jahre für Deutschland gekämpft, wurde vier Mal Verwundet und habe nie eine Rente beantragt, jetzt habe ich einen Wunsch frei: Gebt mir meinen Bub zurück.“ Lilo sah uns an, lächelte und sagte: „Könnt ihr euch vorstellen, wie das damals war? Da sagte ein Mann, er wolle seinen Sohn zurück und das obwohl er Jude ist und nicht mal sein leibliches Kind. Aber wir hatten Glück. Helmut durfte nach Hause kommen, mit einem Judenstern auf die Brust gestickt.“

Ab sofort musste er sich im Keller verstecken.

Kurz darauf wurde das Kinderheim aufgelöst und auch die letzten Kinder wurden auf Transport geschickt, ebenso wie auch andere Kinder und Erwachsene aus den Judenhäusern. Inge Hertz war eine von ihnen. Mit ihr hatte sich Lilo angefreundet. Inge verabschiedete von Lilo mit den Worten: „Ich habe meine Mutter schon lange nicht mehr gesehen, aber wir werden uns irgendwann wieder sehen, wenn auch im Himmel.“

Eine Begebenheit, die Lilo schilderte, ging uns besonders nahe. Als Lilo von der Schule nach Hause kam, beobachtete sie eine große Menschenmenge am Börneplatz in Frankfurt. Sie fragte ein Mädchen ihres Alters, wo sie denn jetzt hingingen. Das Mädchen antwortete: „Dort, wo wir hinfahren, ist der Himmel ganz nah.“

Am 18.03.1944 gab es einen Luftangriff auf Frankfurt am Main. Alle Kinder wurden auf das Land evakuiert, lediglich die jüdischen Kinder mussten da bleiben. Man ging mit Klamotten zu Bett, damit, wenn die Sirene einen Luftangriff ankündigte, alles ganz schnell ging. Auch an diesem Abend war es nicht anders. Nach dem Angriff rannte Lilo Günzler mit ihrer Familie durch die brennenden Straßen bis zur Zeil. „Es war als würden wir von der Hölle in den Himmel kommen.“, so Lilo Günzler. Und auch hier bekamen sie wieder Hilfe. In einem leer stehenden Haus fanden sie Unterkunft. Hier wurde Lilos Schwester geboren. Kurz darauf kam der Tag, an dem Lilos Mutter und Helmut ihren Transportschein bekamen. Es flossen viele Tränen, es wurde geschrien, geschimpft, getrauert. Am Abend, als Helmut und das Baby bereits schliefen, hörte Lilo ein Gespräch ihrer Eltern.
Ihr Vater: „Mit Gas geht alles ganz schnell.“
Ihre Mutter: „Ich gehe Morgen alle Tabletten holen, die ich bekomme.“
Lilo sah zu uns auf und lächelte traurig. Selbstmord war damals keine Seltenheit, erklärte sie uns. Ein paar Tage danach (13.02.1945), war der Transport. Lilos kleine Schwester hatte man bereits in einem katholischen Kinderheim untergebracht.
„Und dann kam der Tag an dem meine Mutter und mein Bruder auf ‚Transport‘ gingen.“ 50 Reichsmark mussten sie jeweils bezahlen, ohne zu wissen, wo es hin geht.zeitz

In dem Ostbahnhof mussten sich alle Juden, die „auf Transport“ gehen mussten, sammeln und dann zu Güterrampen, die vor Güterwagen standen, gehen. Alle Begleiter der Juden durften nur hinter einem Zaun zusehen, wie sie in Gruppen in die Güterwagen gingen.

„Meine Mutter und Helmut stellten sich vor den letzten Güterwagen, der, der mir am nächsten stand.
Ich schaute zu den anderen Wagen wo die andern schweigsam einstiegen. Sie gaben keinen Ton von sich, protestierten nicht, sondern nahmen ihr Schicksal hin.“

Lilo schaute uns an. „Wisst ihr, das waren so Güterwagen, die hatten zwei Türen. Erst schlossen sie die eine Tür und dann die andere und dann war da noch ein Hebel, den die Soldaten herunterklappten. Und dann, erst als die SS-Leute den Hebel herunterklappten fingen die Juden an zu schreien und gegen die Wände zu hämmern und zu weinen“, Lilo setzte ihre Brille ab und schaute uns erneut an, dann lächelte sie und zog ihre Brille wieder auf. „Und dann kam der letzte Wagen dran, alle stiegen ein, meine Mutter und mein Bruder als letztes. Die erste Tür wurde geschlossen, aber als der Mann die zweite Tür schließen wollte, steckte mein Bruder seinen Kopf aus dem Wagen und suchte meinen Blick. Wir kommen wieder.“

Noch an dem selben Tag fuhren Wagen durch Frankfurt mit Lautsprechern und überall wurde gerufen:

"Endlich ist Frankfurt Judenfrei, Endlich ist Frankfurt Judenfrei, Endlich ist Frankfurt Judenfrei!"

Nach ein paar Tagen musste der Vater zum „Volkssturm“ aufbrechen und Lilo ging zu Nachbarn, ein älteres Ehepaar, die auf sie aufpassen sollten. Doch da immer mehr SS-Soldaten durch die Häuser zogen um zu überprüfen, ob auch wirklich alle Juden aus Frankfurt verschwunden waren, wollte das Ehepaar mit Lilo fliehen, auf das Land. Doch Lilo weigerte sich, sie wollte in Frankfurt bleiben, um sich dort mit ihren Eltern und Geschwistern wieder zu treffen. „Denn wo sonst sollten meine Eltern mich suchen, es war der einzige Ort, den ich kannte, an dem sie mich suchen könnten.“
Lilo verabschiedete das Ehepaar, suchte alle Lebensmittel zusammen, die sie finden konnte und flüchtete in die Keller. Ihr Proviant bestand aus einem Glas Kunsthonig, Wasser und einer rohen Kartoffel. Doch fast zwei Wochen musste sie dort unten in dem Keller leben. Ihre Essensvorräte jedoch waren zu wenige um zwei Wochen damit leben zu können und so kam es schon nach einigen Tagen, dass ihr Essen leer war. Sie hungerte. Irgendwann fand sie den Mut in den anschließenden Kellern nach Essen zu suchen. Doch dann kam ihre Rettung. In einem weißen Stoffbeutel befand sich Brot, steinhartes Brot. „Das war meine Rettung.“, Lilo lächelte. Lilo weiß bis heute nicht wie viele Tage sie in dem Keller verbracht hat, nur an das Ende erinnert sie sich ganz genau.
„Oben an der Tür klopfte es. Aber nicht so als würde jemand anklopfen, es hämmerte jemand mit einem Gegenstand gegen die Tür. Ich hatte Angst, aber ich ging trotzdem nach oben und öffnete die Tür. Davor wartete ein farbiger Mann. Und ich wusste, dass der Krieg vorbei war. Ich fing an zu weinen.“, doch entgegen ihrer Erzählung war das der Moment in dem Lilo zum ersten Mal lachte oder gerade zu strahlte. Mit der Hand griff sie in ihre Hosentasche und tat, als würde sie etwas aus ihrer Hosentasche holen und streckte dann ihre geöffnete Hand uns entgegen. „Der Mann holte etwas Schokolade aus seiner Tasche und streckte sie mir entgegen.“, lachte sie. „Und er weinte mit mir.“

Nur ein paar Tage später kam ihr Vater wieder, danach ihre kleine Schwester und letztendlich auch ihre Mutter und ihr Bruder, sie waren wieder eine Familie.

Lilo guckte uns an: „ An dem Punkt ist es immer so, dass es still ist und wir einen Moment brauchen um das Erzählte zu verarbeiten. Und das ist in Ordnung.“

Auf die Frage, ob sie jemals gehasst hat, antwortete Lilo Günzler:

„Nein ich habe nie gehasst.“

 

 
 

 

Von Hannah Daubitz & Marie Claire Beck, Klasse 9c